Sonntag, 29. Juni 2008

Der Abend

Schweigt der Menschen laute Lust:
Rauscht die Erde wie in Träumen
Wunderbar mit allen Bäumen,
Was dem Herzen kaum bewusst,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust.

(Joseph Freiherr von Eichendorff)


Einleitung

Das Gedicht „Der Abend“ wurde zuerst im Jahre 1826 ohne Titel im Rahmen von Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ veröffentlicht. Den Gedichttitel erhielten die Verse in gedruckter Form erstmals in einer Gedichtsammlung von 1837.
Im Taugenichts taucht es gleich zweimal auf. Zunächst in Kapitel 4, gesungen von Herrn Guido auf dem Balkon eines italienischen Wirtshauses, gesungen mit einer engelsgleichen Stimme in eine Gegend hinein, die von Mondenschein „säuselt und zittert“. Durch die zweiten Verwendung in Kapitel 10 wird das Gedicht in Manier des romantischen „Claire-obscure“-Topos verwendet: Zwei Gestalten gleichen einander, ähneln sich, wodurch sie jedoch ihre wahre Gestalt verbergen, was zu folgenreichen Komplikationen führen kann. In diesem Fall glaubt der Protagonist wieder die Stimme von Herrn Guido zu hören, läuft ihm durch Rosenhecken entgegen, findet sich dann aber an einem Schwanenteich im Abendrot vor seiner Liebsten wieder, usw.


Form des Gedichts

Die sieben Verse dieses volksliedhaften, einstrophigen Gedichts bestehen aus gleichmäßig 4-hebigen Trochäen mit umarmendem Reimschema abbacca, mit drei männlichen Kadenzen und eingefaßten, weiblich endenden Paarreimen, welche insgesamt einen einzigen Satz bilden.

So kunstvoll gefertigt, so ruhig und harmonisch, geradezu wiegenliedhaft das Gedicht durch seine Gestalt auch wirkt, es enthält gleich im erste Vers zwei Widersprüche: Zum einen wird die den Menschen innewohnende Unruhe durch ihre Abwesenheit dargestellt; zum anderen wird das zur folgenden, ruhig-getragenen Abendstimmung Kontrafaktische (d.i. die Hektik der Menschen) durch die einzige auffallende Klangfigur des Gedichts eingefangen: nämlich durch die Darstellung der „laute[n] Lust“1, der einzigen Alliteration im Text, welche inhärent einen klanglichen Kontrapunkt zum eigentlichen Aussagegehalt der Metapher bildet, also einen Widerspruch in sich selbst. Durch diese Besonderheit verbleibt die semantisch-auditive Paradoxie der "laute[n] Lust" über den Grenzzaun, den der Doppelpunkt am Ende des ersten Verses bildet, hinaus, tatsächlich noch wie ein Echo (oder um im Bild zu bleiben: wie ein Wetterleuchten) im Gedächtnis des Lesers haften.

Es werden also gleich zu Beginn Gegensatzpaare aufgestellt, die das Gedicht durchziehen und textintern verzahnen, es hin und her wiegen lassen.

Direkte Gegensatzpaare sind:
Schweigen – Laute Lust [Vers 1]
Menschen – Erde [Verse 1 und 2]
Rauschen der Bäume – kaum bewusst (Träume) [Verse 2 und 3]
Laute Lust – Leise Schauer [Verse 1 und 6]

Erweiterte Oppositionspaare wären:
Erde (Wirklichkeit) – Traum [Vers 2]
Hektik der Menschen – Rauschen der Natur [Verse 1 und 2]
Größe (der Welt) – Vergänglichkeit (des Menschen) [Verse 1 und 7]
Schweigen – Wetterleuchten (in der Brust) [Verse 1 und 7]
Tag – Nacht (im Übergang des Abends) [Vers 1 und Verse 2 bis 7]

Wenn man unter „Abend“ den Zeitabschnitt versteht, der mit der Dämmerung beginnt und fließend in die Nacht übergeht, beschreibt dieses Gedicht jenen Übergang, in dem es noch leicht dämmert, die Dunkelheit aber bereits hereingebrochen ist, erkennbar durch das Wetterleuchten, welches zugleich kennzeichnend für die Jahreszeit des Sommers bzw. Hochsommers stehen kann.

Wie hieraus eine direkte Verbindung zwischen Natur und lyrischem Ich (welches letztendlich auch zur Seite der Menschen gehört) entsteht, ist der kunstvollen Gestaltung des Gedichts zu verdanken.

Gleich im ersten Vers werden die Menschen an der Grenze zur eigentlichen Abendbeschreibung mit dem Doppelpunkt geradezu weggewischt und eine Szenerie gänzlich ohne Menschen geschaffen. Wir blicken auf eine vom Menschen befreite Erde, die von einer wunderbar traumhaften Stimmung gezeichnet wird, in deren Zentrum jedoch nichtsdestotrotz das Herz steht (in Mitte von Vers 4 und somit in der optischen Mitte des Gedichts).
Es sind Vokabeln des Augenblicks und der Dauer: „Rauschen“, „Schauer“, „Schweifen“, „Wetterleuchtend“, welche kurze, schnell vergehende Eindrücke beschreiben und das Gedicht bestimmen (gleich einem Aufblitzen am Horizont), ohne dabei jedoch eine dem Menschen eigene Vergänglichkeit auszustrahlen, sondern im Gegenteil zugleich Raum und Weite (auch zeitliche) evozieren: So rauscht die Erde mit „allen Bäumen“, „Träume“ und „Alte Zeiten“ sind gleichsam bestimmte wie unbestimmte Ausdrücke für etwas nicht Faßbares, Unbegreifliches, Andauerndes, ebenso wie das Wetterleuchten zwar sichtbares Zeichen ist, aber doch hinter dem Horizont in einer unerreichbaren Ferne verbleibt.

Trotz der schwulstigen Stimmung bleibt die Erzählhaltung des Gedichts distanziert, schwebend. Nur Ausdrücke wie „wie in Träumen“ und „wunderbar“ deuten auf das Vorhandensein eines lyrischen Ichs hin. Eine eindeutige Personifizierung erfährt nur „die Erde“, die „mit allen Bäumen“ rauscht. Das Menschliche des Betrachters bleibt innerhalb des Gedichts verborgen, bleibt auf das „Herz“, das genau im Zentrum, also im Herzen des Gedichts steht, und auf die „leise[n] Schauer“ in der Brust beschränkt, also auf die Empfindungen, welche eine direkte, aber „kaum bewußt[e]“ Verbindung mit der Natur eingehen, während die Hektik der Menschen, vor der das lyrische Ich geflohen sein mag, zwar am Rande verbleibt, aber von Anfang an „schweigt“.

Der „lauten Lust“ der Menschen wird die leise Lust des Herzens entgegengesetzt, welches im „kaum bewußten“ eine Kommunikation mit der Natur eingeht und auf der Flucht vor den störenden Einflüssen der Menschen sich selbst begegnet. Doch das lyrische Ich läßt sich nicht benennen, wird gleichsam zu einem kosmischen Ich, das sich in seinem elegisch-lyrischen Tonfall selbst genug ist und die Ruhe der Abendstimmung in sich aufnimmt. Das Schweigen, welches zugleich Ausgangspunkt und Voraussetzung ist, entwickelt sich durch die umfassende Wahrnehmung der Natur, des All-Eins-Seins des lyrischen Ichs mit der gesamten Erde, zu einem wortlosen Rauschen am Gedichtschluß, in der Brust situiert als Endpunkt, als Ziel. Ein Rauschen, welches gleichzeitig ein Geräusch ist und kein Geräusch, eine Aussage und keine Aussage, ein Lärm und (wie das Wetterleuchten) die Negation eines Lärms durch die Unhörbarkeit des Donners. Die meditative Aufhebung der Gedanken in einem gleichmäßigen Strom der Empfindung(en), welche wie die Gedankenformel „Alte Zeiten, linde Trauer“ in Zeile 5 gleichsam etwas bedeutet und doch nichts bedeutet; diese Formel schließlich setzt das lyrische Ich, auch durch die Doppelbedeutung des Wortes „linde“ in „linde Trauer“ (für einerseits 'sich weich anfühlend', 'mild'/'milde' und eben sein Homonym den 'Lindenbaum') mit der Natur gleich, indem es eben so, wie die Natur „wie im Traume“ „mit allen Bäumen“ rauscht.

So steht nicht nur der Abend am Übergang zwischen der Ordnung des Tages, der Vernunft und den gesellschaftlichen Konventionen der lauten Menschen auf der einen, und dem Entfliehen dieser in der Nacht, sondern auch das Herz, durch das diese Eindrücke gleichsam einem rauschenden Flusse von Eindrücken fließt.


Schluss

Bei „Der Abend“ handelt es sich also um ein romantisches Naturgedicht, bei dem von Natur nicht viel die Rede ist. Die Erde, ein paar Bäume (genau genommen alle) und etwas Wetterleuchten reichen aus, das gesamte abendliche Sujet mit den sehnsuchtsvollen Äußerungen des immanenten lyrischen Ichs zu füllen, das sich durch Wertungen und Empfindungen andeutet und doch aus jedem Wort spricht.

Es wird ein Bild am Rande der Nacht entworfen, bei dem sich erst entwickelt, worauf es dem Dichter ankommt, wenn die menschliche Umwelt gänzlich verstummt ist: Innerlichkeit.

Zwar klingt noch „laute Lust“, doch sie ist nicht mehr störend, ein ferner Wiederhall. Das Hektische der Menschen ist bereits so fern, dass es vom lyrischen Ich verklärt und poetisierend in Worte gefaßt werden kann, im Gegensatz zu dem, was in der Natur auf das Herz als Erkenntnis wartet: „Alte Zeiten, linde Trauer“ heißt es da nur. Diese Formel stellt in seiner ellipsenhaften Form eine Bildlichkeit dar, die sich nur schwer entschüsseln läßt, die man 'erfühlen' muss. Die Nostalgie, mit der die Vergangenheit betrachtet wird, verbindet sich kunstvoll mit den schwermütig-lustvollen Träumen des also besänftigten Schmerzes und stellt damit in einem einzigen, unvollständigen Satz dar, was die Thematik des ganzes Gedichtes ist: der Übergang vom Tag zur Nacht, der Abschied vom Licht, der Trost der Dunkelheit, eine Hymne an den Abend.

Der unbefriedigte Füllraum der Ellipse weist von dem im Zentrum der Abendwahrnehmung stehenden Herzen voraus auf die letzten zwei Verse des Gedichts, in denen das lyrische Ich seine Sublimation erfährt. Das Wetterleuchten liegt am Horizont, im Dunkeln, außerhalb des Artikulationsbereiches des lyrischen Ichs wie die unbewußten Träume, und ist doch sichtbar, dem lyrischen Ich in seiner unterschwelligen Trauer und seiner Flucht vor den Menschen und dem Tag ein neues Licht und neue Hoffnung, und in seiner Andeutung eine Ahnung dessen, was als Trost-Spendend begriffen wird:

Dass in der Natur ein verläßliches Gegenüber liegt, das dem Fühlsamen ein undeutlich reflektierender Spiegel geheimer Seelenbewegungen ist, eine Spiegelung, die ebenso zu verwirren wie zu entzücken vermag, und die noch weit über den Horizont des menschlichen Erkennens hinauszureichen imstande ist.

(Viele Interpretatoren fühlen sich berufen, in Anbetracht Eichendorffs verbürgter Christlichkeit diese Verweisstelle mit Gott zu füllen, doch die Transzendenz, mit der die Natur zu sprechen vermag, und die in ihrer schier unvorstellbaren Größe und Gewalt liegt, welche sich sowohl im "Kleinen", in der Zahl der Bäume, als auch im Großen, vor der schieren Unendlichkeit und Macht des Alls (also der Allmacht) äußert, verweist letztendlich nur und einzig zu einer Unbedeutendheit des Menschen und nicht im Umkehrschluß zu einem Verweis auf die Evidenz einer höheren Existenz eines gütigen Gottes.)

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