Freitag, 13. März 2009

»Die Einsamkeit, möglicherweise«

Über die Moral der Figur Benigno in Pedro Almodóvars Hable con ella

Die Schlüsselszene des Films befindet sich bei Filmminute 55 genau in der Mitte des Films:

Benigno ist Mittelpunkt eines Gespräches unter Kolleginnen. Im Gegensatz zu seinem Freund Marco, dem als attraktivem spanischen Mann wie selbstverständlich ein großes Geschlecht attestiert wird, wird die Behauptung, der untersetzte Benigno sei schwul, unhinterfragt akzeptiert.

Foucault untersucht in seinem Werk „Sexualität und Wahrheit“ die diskursiven Mechanismen, mit welchen die vorherrschenden Machtverhältnissen die Sexualität bestimmen, denn diese, so Foucault, werden durch gesellschaftlichen Diskurs und performative Handlungen erst erzeugt. Judith Butler geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie Menschen, die außerhalb der heterosexuellen Matrix stehen, den Subjekt-Status innerhalb der Gesellschaft gänzlich aberkennt. Dem Normierungsdruck ist jedes Subjekt in der Gesellschaft unterworfen, sofern es als intelligibel gelten möchte.

Die Verhältnisse, unter denen Benigno aufwächst, entsprechen nicht einer normalen Sozialisation, was dazu führt, dass auch seine Persönlichkeit nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht.

15 Jahre lang pflegte er seine Mutter in einer Art symbiotischer Mutter-Kind-Beziehung. Der Vater vermutlich in Schweden, richtete Benigno sein Leben gänzlich auf die Erfordernisse seiner Mutter ein, die er nicht als behindert bezeichnet, sondern als faul. Erst zwei Monate nach ihrem Tod wendet er sich der Tänzerin Alicia zu.

Den abwesenden Vater in Schweden scheint Benigno weitestgehend verdrängt und dessen Rolle in der Beziehung zur Mutter eingenommen zu haben. Laut Freud tendieren vaterlose Kinder dazu, ihre Aggressionen zu verdrängen, da der in der Ferne idealisierte Vater keine Angriffsfläche für den Ödipuskomplex bietet und die Angst vor einem möglichen Verlust der Mutter zu stark ist, um ihr gegenüber den Aggressionstrieb zu leben. Es führt dazu, dass sie nicht so männlich wirken wie Jungen, die mit einem Vater aufwachsen, und eine starke Loyalität zur Mutter entwickeln. Für Benigno ist diese enge Beziehung zur Mutter ganz normal, und auch ihre vermutlich vorhandende Behinderung wird von ihm durch die Bezeichnung Faulheit normalisiert, während er sie damit unterbewußt aber auch anklagt.

Als diese enge Bindung mit dem Tod der Mutter wegbricht, sucht sich seine Liebe ein neues Projektionsobjekt, die Tänzerin Alicia, und er beginnt zum ersten Mal die Nähe eines anderes Menschen zu suchen, weil ihm, wie er dem Psychiater und Vater von Alicia gesteht, seine Mutter fehlt. Auf dessen Frage, warum er einen Psychiater aufsuche, antwortet er zögernd:

„Weil ich einsam bin, glaub ich.“

Alicias ablehnende Reserviertheit gegenüber Benigno ist in den zwei Aufeinandertreffen der beiden deutlich spürbar. Nur durch den Unfall und das daraus resultierende Koma kann der gelernte Krankenpfleger ihr unkompliziert und ohne Zurückweisung befürchten zu müssen nahe kommen und seine Liebe in der aufopfernden Pflege leben.

Er schildert seinen Lebensalltag mit Alicia als die schönsten vier Jahre seines Lebens. Seine Freizeit besteht darin, ins Ballett oder Kino zu gehen, um der im Koma liegenden Patientin davon zu berichten. Seinem Freund Marco, der den Körper seiner im Koma liegenden Freundin Lydia nicht wiedererkennt, gibt er Lebensratschläge, die dieser unwirsch mit der (dreimal wiederholten) Frage begegnet: »Welche Erfahrungen haben Sie mit Frauen gemacht?« woraufhin Benigno schließlich antwortet: »Na alle, ich habe 20 Jahre mit einer Frau gelebt und seit vier Jahren mit dieser hier.«


Benigno lässt Alicia die selbe Pflege und Aufmerksamkeit zukommen wie zuvor seiner Mutter. Alicia nimmt ihre Position ein. Das kindliche Liebesempfinden Benignos zur Mutter überträgt sich auf sie, ohne dass ihm diese Zusammenhänge bewusst wären. Das empfundene Glück resultiert dabei nicht aus der Körperlichkeit, sondern aus der Freizeit, die er für die im Koma Liegende erlebt und die ihm erst seit dem Tod der Mutter, die ihm noch den Blick aus dem Fenster verboten hatte, möglich ist. Benignos Liebe ist noch eine Objektliebe. Während die Kamera einerseits die Pflegearbeit mit der größtmöglichen Distanz und Routine schildert, bietet sie andererseits dem Zuschauer einen voyeuristischen Blick auf den Körper der Tänzerin und auf seine weiblichen Attribute.

Verstärkt wird dieser Blick durch die anderen Figuren, die ihre Vorbehalte gegenüber der Pflegetätigkeit Benignos deutlich machen. Neben dem Pflegepersonal und Marco sieht sogar Alicias Vater seine Tochter in ihrer Geschlechtlichkeit. Die dadurch auftretende Eifersucht kann nur durch Benignos Schutzbehauptung, schwul zu sein, also eben unter Verlust seines intelligiblen Subjektstatus, begegnet werden. Alicias Körper bewahrt Benigno eher wie ein Objekt, wie ihre Haarsprange, als Bindeglied zu der lebenden Tänzerin, die sie war, beziehungsweise in ihrem weiblichen Gehirn (als Mysterium) noch ist.

Dann aber kommt es zu der entscheidenden Veränderung. »Amante menguante« heißt ein Stummfilm, den Benigno in der Cinemathek sieht. Angelehnt an Jack Arnolds The Incredible Shrinking Man wird eine Geschichte erzählt, die Benignos Verhältnis zu Alicia grundlegend erschüttert.

In "Der schwindende Liebhaber" erkundet ein auf Däumlingsgröße geschrumpfter Mann den Körper seiner schlafenden Frau und findet sich schließlich in ihrem Schoße wieder. Die für ihn übermannsgroße Vagina scheint wie das Ziel aller Sehnsüchte, in das er zu ihrer Verzückung nach einigem Zaudern eindringt und für immer darin verschwindet.


Es könnte den Anschein erwecken, dass Benignos körperliches Begehren anhand des (im Film etwa fünfminütigen) schwarz-weißen Stummfilmes im Stil der 20er Jahre symbolisiert wird. In Wirklichkeit aber wird es durch diesen erst geweckt.

Objektiv gesehen wird ein ewig-währender Beischlaf eines kleinwüchsigen Mannes mit einer schlafenden (komatösen) Frau dargestellt. Die komplexe Symbolik geht jedoch noch darüber hinaus, was nach dem Filmbesuch Benigno in eine großen Verwirrung stürzt.

In dem Film begegnet ihm zum einen eine Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, in welcher der Mann der Frau seine Liebe beweisen muss, was dazu führt, dass er schrumpft, also an Wert verliert. Zum anderen wird die Mutter, zu welcher der Mannes flieht, als eine schreckliche Frau beschrieben; aus ihren Händen rettet die Frau den kleinen Mann.

Benigno erkennt nach dieser Rettung den Körper der Frau zum ersten Mal als Sexualobjekt, in das der „kleine Mann“ (der Penis) eindringen möchte. Zugleich ist der kleine Mann ein geschrumpfter Mensch, der als ganzer Mensch wieder in den Schoß der Mutter zurückkehren kann, um wunschlos glücklich (also nie mehr einsam) zu sein. Da die Wahrnehmung der Schlafenden auf eine unterbewusste Wahrnehmung der Reize beschränkt ist, kann sie ihrem Liebhaber keine Aufmerksamkeit und (nach Butler) auch keinen Subjekt-Status gewähren, sondern hat sogar Angst, ihn zu töten. Hergestellt jedoch wird durch Initiative des Mannes die ganz bewusste und unmittelbare Verbindung der beiden über das Eindringen in die Vagina der Schlafenden.

Für Benigno, dessen Liebesempfinden an der engen Beziehung zur Mutter geschult wurde und dessen größte Angst darin bestand, von dieser verlassen zu werden, wird also von der Außenwelt (in Form eines Stummfilms, das heißt indirekt über performative Akte, also den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs) suggeriert, dass dieses absolute Verschmelzen, die Anerkennung als intelligibles Subjekt und die Wahrnehmung durch die Schlafende durch den sexuellen Akt herbeigeführt werden kann, und dass der Versuch, die Einsamkeit für immer zu überwinden, ein Vollständig-Sein mit einem anderen Menschen (Alicia) zu erreichen und (mit der Schlafenden) einen direkten Kontakt herzustellen, nur durch den Beischlaf erreicht werden kann.

Eine Lavalampe ist zu sehen, die zuerst die beiden Bildhälften miteinander verbindet, sich dann aber in der Mitte wieder trennt.

Benigno erfährt am eigenen Leib, dass der von ihm herbeigesehnte Zustand der Verschmelzung nicht zu erreichen ist. In der folgenden Szene ist eine Verunsicherung bei ihm zu spüren, als er darüber spekuliert, worüber die beiden im Koma liegenden Frauen wohl miteinander reden würden. Die offenherzige, immer fröhliche Person ist ist ernst und besorgt. Alicia hat für ihn nun Brüste, sie ist von der Muttergestalt zur Frau geworden, die Distanz, die nun aus seiner Objektliebe eine geschlechtliche Liebe macht, ist für ihn nicht zu überwinden. Während er bislang seine Euphorie im Umgang mit Patienten auf Marcos Beziehung zu Lydia projizierte und ihm Tipps geben konnte, ist in seinem Denken nun die Trennung präsent, die er am eigenen Leibe spürt. So kommt er schließlich, als das Bekanntwerden seines Fehlers unmittelbar bevorsteht, auf die Idee der Heirat, die ein Paar bis in den Tod miteinander verbindet, auch dies ein gesellschaftlich-performativer Akt.

Auch hieran wird der Normierungsdruck deutlich, dem auch Benigno sich beugt. Alicia hatte den Beruf der Tänzerin. Tanzen bringt den Körper in den Vordergrund, und gerade auch das Geschlecht. So beschreibt auch die Tanzlehrerin immer wieder die männlichen und weiblichen Aspekte, die beim Tanz in einen Dialog zueinander treten und auch in einem Widerstreit zueinander stehen. Benignos Einsamkeit beruht darauf, in diesem gesellschaftlichen Tanz-Diskurs (noch) keinen Platz zu haben und von Alicia (und allen anderen Frauen) nicht wahrgenommen zu werden.

Benigno ist der Verrückte. Seine „Reise“ in die heterosexuelle Norm endet im Gefängnis. In seinem Lieblingsreiseführer über Havana, den er nach Bekanntwerden seiner Tat im Gefängnis liest, identifiziert er sich mit der Kubanerin, die am Hafen an ein Fenster gelehnt steht und auf irgendwas wartet.

Hier wird noch einmal symbolisch die Tragweite seines Problems deutlich: Auf einer Insel, fern und abgeschottet von anderen Ländern, ein idealistisches System zu leben, und doch einsam am Fenster zur Welt zu stehen, als Frau nun, sozusagen kastriert, und auf auf etwas zu warten, möglicherweise auf Anerkennung, eine Wiederaufnahme in die Gesellschaft und ein Ende der Einsamkeit.

Das Urteil, das schließlich von der Gesellschaft über Benigno verhängt wird, ist ein Urteil der heterosexuellen Gesellschaft, die ihre Vorstellungen (und ihre Triebe) auf das ihnen fremde Subjekt Benigno überträgt. Aus einem (möglicherweise) einmaligen Zwischenfall wird ein Missbrauch, der die aufopferungsvolle, über Jahre praktizierte Hingabe mit einem Schlag vernichtet, und ihn sogar bei der, ihn als einzige als intelligibles Subjekt außerhalb seines geschlechtlichen Körpers akzeptierenden Person Rosa zu einer Persona-non-grata werden lässt.

Nur Marco, der zehn Jahre lang ebenfalls in eine Phantasie-Gestalt, die nur in seinem Kopf existierte, verliebt war, bleibt ihm verbunden. Im Gefängnis deckt sich Marcos Spiegelbild mit Benigno.

Doch kann Marco, der mit allen Figuren des Films in Kontakt steht und dessen freundschaftliches Verständnis Almodóvar im Zuschauer wecken möchte, Benigno letztendlich nicht retten. Wiederum sind es die Interventionen der Gesellschaft (Abschiebung in Untersuchungshaft), fehlendes Verständnis (Vorgehen des Anwalts) und der gesellschaftliche Diskurs (Berichterstattung der Zeitungen, die Verurteilung seitens des Personals) die eine Lösung verhindern, so dass Benigno sich letztendlich selbst für sein, ihm durchaus bewusstes Fehlverhalten bestraft. Sein Suizid ist der letzte verzweifelte Versuch, aus dem Gefängnis, in dem sein Leben der Insasse ist (und das noch im Bau ist, daher so gut wie leer), zu fliehen und in eine Zukunft zu entkommen, in der er einem Menschen nah zu sein glaubt, also der Einsamkeit zu entkommen, was ihm die Gesellschaft immer verwehrte.

Das wirkliche Ausmaß und die Schwere seiner Schuld existiert am Ende, da nicht im Film präsentiert, nur in der Vorstellung und Phantasie des Zuschauers. Benigno wird somit wieder Opfer eines Diskurses, deren Machtverhältnisse nur der Zuschauer beeinflussen kann. Dieser ist bei seinem Urteil auf sich allein gestellt und hat die Wahl, ob er es sich dabei einfach macht oder nicht.

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