Bourdieus Begriffe vom Habitus und der symbolischen Gewalt angewandt auf den hochhackigen Damenschuh
Absätze waren ursprünglich ein Zeichen von Wohlstand. Im 16.Jh. trug der europäische Adel Absatz, da dieser einen Vorteil beim Reiten mit Steigbügel bot und die Schuhe vor Schmutz schützte. Im Orient wurden die ursprünglich flachen Sandalen bereits im 4. Jh. mit Holzkeilen unterbaut, um den sozialen Stand der Frauen zu dokumentieren. Sie waren „von hohem Stand“.
Erst gegen Ende des 19.Jh. begann durch industrielle Fertigung das in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete Einheitsschuhwerk abgelöst zu werden. Die nun außerdem kürzere Röcke tragende Frau entdeckte im Damenschuh ein modisches Accessoire, das ihre feminine Seite und besonders den Frauenfuß betonen sollte. Was bis dahin höheren Schichten vorbehalten war, wurde nun auch unteren Schichten zugänglich: Es gab Schuhe aus feingewebten Stoffen, Gold- und Silberleder, bestickt mit Metallfäden, Strass und bunten Perlen. Kurze Füße galten bereits im Mittelalter in Europa als weibliches Schonheitsideal. Durch Schuhschmuck, dünnere Riemen, höhere Absätze und ausgeschnittene Schäfte wurden die vermehrt entblößten Füße optisch gekürzt zur Schau gestellt. Stiefeletten waren in den 1920er zum Teil so schmal geschnitten, dass frau sich mit Einschlüpfhilfen behelfen musste, die sie, in einer Schatulle verpackt, mitnehmen musste, um die Schuhe auch außerhalb des Hauses ausziehen zu können.
In China war etwa tausend Jahre lang folgende Mode en vogue: Durch Nach-hinten-Schnürung der großen Zehen wurden Mädchen bereits im zartesten Kindesalter durch enge Binden die Füße verkrüppelt. Dieses systematisch propagierte Schönheitsideal (Lotus-Fuß) begann beim Adel durch das Vorbild einer Tänzerin, der Bewunderung und Anerkennung entgegengebracht wurde, und verbreitete sich von dort allmählich in untere Gesellschaftsschichten. Schließlich erreichte die Mode alle außer den niedrigsten Klassen.
Es gab eigentlich drei Gründe für das jahrhundertelange Binden von Mädchenfüßen: Frauen mit verkrüppelten Füßen konnten weder richtig gehen, noch laufen, und so waren sie daran gehindert, sich allzu weit vom Haus zu entfernen. Damit war ihr Gehorsam gegenüber ihren Ehemännern sichergestellt. Adelige Damen demonstrierten mit ihren verkrüppelten Füßen ihren hohen sozialen Stand und die Tatsache, dass sie nicht zu arbeiten brauchten (weshalb diese Mode auch nicht die Schicht der ärmsten Bauern erreichte, die für die Feldarbeit Frauen mit intakten Füßen benötigten). Zum dritten galten die gewaltsam verkleinerten Füße als „erogene Zone“, mit der die Männer spielen konnten (aufgrund der Verwachsungen aber vermutlich eher inklusive Schuhwerk).
Mit Ende des Kaisertums 1912 wurde diese Mode verboten, ihr Ende kam jedoch erst mit der Gleichberechtigung der Frau in der Volksrepublik China, wo sie nun auch arbeiten musste.
Die erotische Komponente spielt auch bei der europäischen Schuhmode eine Rolle. Vom Objekt Fuß abgesehen, wird durch das Tragen von Absätzen in Folge der Erhöhung der Sprunggelenke über den Untergrund, wie auch aufgrund der veränderten Gewichtsverteilung zwischen Vor- und Rückfuß die Körperhaltung verändert. Es kommt zu einer Betonung der Brust und des Gesäßes, die Beine werden gestreckt, wirken verlängert, und durch die notwendigen Bewegungen der Hüften wird der Gang der Frau für den Mann durch wiegendere Bewegungen erotisiert.
Das Tragen hochhackiger Schuhe führt en passant dazu, dass die Frau einen mehr oder minder unsicheren Gang erhält, der sie am Fortlaufen hindert. Es besteht eine erhöhte Gefahr des Umknickens, das Laufen ist nicht auf jedem Untergrund oder bei jeder Untergrundneigung gefahrlos möglich (in Vergewaltigungsszenen in Filmen tragen Frauen fast ausschließlich Stöckelschuhe). Häufiges und längeres Tragen von Schuhen mit hohen Absätzen führt im Laufe der Zeit zu krankhaften Veränderungen des Fußskeletts, zu Muskelüberlastungen und -verkürzungen, Rückenschmerzen, Verschlechterung der Durchblutung der unteren Extremitäten und leistet verschiedenen orthopädischen und gefäßbedingten Krankheitsbildern Vorschub (z.B. Hallux valgus, einer Art europäischem Lotusfuß). Ein Arbeiten in Stöckelschuhen ist nur bei bewegungsarmen Tätigkeiten möglich, bei denen Frau noch auf ihr äußeres Erscheinungsbild achten kann oder muss. So gehören Absatzschuhe zur Sekretärinnen- wie zur Hostessen-Uniform.
Dennoch kaufen Frauen immer wieder Schuhe, in denen es eher eine Qual ist zu gehen als ein Vergnügen. Manche Frauen gehen sogar so weit zu behaupten, dass Schuhkaufen genauso prickelnd sei wie guter Sex. Die Hälfte aller Frauen besitzt mehr als zehn Paar Schuhe, ein Drittel sogar mehr als fünfundzwanzig. Denn während andere Körperteile natürlichen Schwankungen unterworfen sind, die ihren „Marktwert“ i.d.R. schmälern, sind Frauen mit ihren Füßen meist zufrieden, auch weil Schuhe nach Jahren noch immer passen und die Füße genauso gut aussehen lassen wie beim Kauf. Das „Kapital der Frau“, ihr gutes Aussehen, bleibt an den Füßen länger erhalten, weshalb Schuhen von Frauen, deren soziales Kapital maßgeblich von ihrem Aussehen bestimmt wird, ein so hoher Wert beigemessen wird.
Durch hohe Absätze wird auch die Position des Kopfes erhöht, die Frau wird größer, erhält eine neue Perspektive auf die Welt, sie kommt mit Männern, die in der Regel größer gewachsen sind als Frauen, auf Augenhöhe. So stellen Absätze in der Wirtschaft oder Politik ein verbreitetes Mittel (allerdings nicht nur bei Frauen) dar, durch schuherzeugte körperliche Größe äußerliche Ebenbürtigkeit zu erreichen. Schuhe stellen also einen wichtigen Aspekt der weiblichen Selbstwahrnehmung und -darstellung dar.
Mit der modernen Präsentation High-Heels-tragender Frauen wird jedoch vielfach reduziert auf das Signal ihrer erotischen Ausstrahlung ein anderes Frauenbild übermittelt. Wo immer ein weibliches Schönheitsideal präsentiert wird, auf Modeschauen, in Zeitschriften, in Filmen (z.B. Marilyn Monroes berühmte weißes-Kleid-Szene), Musikvideos (Madonna, Kylie Minogue) oder auf dem Straßenstrich ist das Tragen von hohen Absätzen Pflicht. Stets wird zugleich die Anerkennung durch männliche Blicke vermittelt und in das Denkschema mit aufgenommen. Durch die Bewegungs- und Klangkulisse wird die absatztragende Frau selbst zum Blickfang auch für andere Frauen, ihr schwebender Gang beschert ihr Momente wie Aschenputtel auf dem Festball. Stilettos sind in der High Society zum Ballkleid ein Muss. Edles Schuhwerk lässt wie Markenkleidung die Frau scheinbar Teil dieser glitzernden Welt werden. In Malaysia dürfen muslimische Frauen seit Juni 2008 keine Hackenschuhe mehr tragen, „die klappern“, nur hochhackige Schuhe mit Gummisohlen sind erlaubt.
Dass auch im 21. Jahrhundert noch immer viel Wert auf das Aussehen einer Frau gelegt wird statt auf ihre Fähigkeiten, zeigt sich auch an ihrem im Vergleich zum Mann (im relativ emanzipierten Europa) noch immer geringeren Einkommen. Der Ausdruck symbolischer Gewalt, der im Damenschuh zutage tritt, ist dabei nur Teil genereller gesellschaftlich-übermittelter Kleiderordnungen, in denen z.B. Männer in hohen Positionen durch Sakkos mit Schulterpolstern und Carla Brunis an der Seite (welche in persona übrigens Schuhe ohne Absatz favorisiert, da Nicolas Sarkozy nur 1,65 Meter groß ist) Stärke und Macht demonstrieren.
Da der Handlungsspielraum der Frau noch immer als eingeengt wahrgenommen wird, passen sich Frauen den Möglichkeiten der Gestaltung innerhalb dieses Rahmens an. Viele Schuhe zu besitzen entspricht dem Wunsch der Frau nach Verwandlung. Sie ermöglichen es frau, nach Lust und Laune in wechselnde Rollen zu schlüpfen: vom sportlich-unkomplizierten Kumpeltyp in Sportschuhen zur seriösen Businessfrau in Pumps bis hin zur Femme Fatale in High-Heels oder sexy Stiefeln. Die mit dem Schuhwerk verbundenen Assoziationen stehen automatisch im sozialen Rahmen zur Verfügung und werden durch das getragene Schuhwerk nicht hinterfragt, sondern bedient. Die Schuhe formen die Denk- und Sichtweise. Das häufige Wechseln des Schuhwerks kann auch orthopädischen Fehlbildungen vorbeugen.
In China gelang die Überwindung der kulturellen Praktik u.a. durch die Gründung von Elterngruppen, die sich Anfang des 20. Jh. gegenseitig versprachen, weder ihren Töchtern die Füße zu brechen und zu binden, noch ihre Söhne an Frauen mit gebundenen Füßen zu verheiraten. Damit wurden Kollektive mit neuen Verhaltensmustern geschaffen, die von den Eltern als Bezugsgruppen akzeptiert wurden. Ähnliches geschieht in Europa momentan mit dem Symbol des Rauchens, das gesellschaftliche Ächtung erfährt.
Das System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, welche als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen dienen, die sich in der Spontanität des Momentes, also ohne Wissen und ohne Bewusstsein in der Praxis eines Menschen offenbaren, wird somit auch an der Nutzung, Präsentation und Verfügbarkeit der Schuhmode in Europa deutlich.
zimmer 412
vor 15 Jahren
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