- eine kurze Begegnung mit Hart Crane
(* 21. Juli 1899 in Garrettsville, Ohio; † 26. April 1932 in Florida)
Ich erinnere mich an den Golf von Mexiko. Noch nicht ganz Tag. Das Schiff, die S.S. Orizaba, schiebt sich, schwerfällig und mit rußenden Atemzügen über die ruhige See. Es geht zurück, zurück nach Amerika, von Vera Cruz nach New York, und den an Deck Stehenden klingt eine seltsame Stille. Drüben sitzt Ernest an der Reling und fischt. Ich kann ihn mir gar nicht anders vorstellen. Entweder er sitzt hinter seiner großen Angel oder hinter einer qualmenden Pfeife mit südamerikanischem Tabak.
Oder ich sehe ihn als Großwildjäger, der von Löwen träumt. Warum er auf diesem Schiff ist, ich weiß es nicht.
– Beißen sie? rufe ich zu ihm herüber.
– Das werden sie, antwortet er.
Das Lächeln eines inzwischen über Dreißigjährigen. Im Krieg noch freiwillig an der italienischen Front, als Fahrer eines Ambulanzwagens. Nach nur drei Monaten schwer verwundet zurückgekehrt. Jetzt sitzt er da als wäre nichts passiert. Körperliche Wunden verheilen zu leicht. Die Welt steuert auf den nächsten Krieg zu. Und alle wissen es.
Für einen Moment fühle ich mich unwohl, so klein auf dem weiten Ozean. Das Schiff pflügt zu beiden Seiten Wellen, die in ein paar Tagen irgendwo an einen Strand rollen werden. In der Ferne ein dunkler Streifen, vielleicht Land. Und dazwischen diese bodenlose Ebene, unter der, so friedlich, bald die U-Boote kreuzen wie unaufhaltsame Meteore.
Und Hart Crane wird schweigen, mit unendlicher Geduld.
Gerade tritt er, entspannt und ruhig wirkend, an Deck. Sein fester Gesichtsausdruck beeindruckt mich, er tritt an Deck wie ein Denkmal, über alle Dinge erhaben. Ich habe schon einiges über ihn gehört, besonders von seinen sexuellen Vorlieben, seinem Abonnement einer Matrosen-Zeitschrift – doch das sind Dinge, die mich nichts angehen. Mich interessieren seine Worte, seine Werke. Er tritt an Deck in Pyjama und Bademantel. Ungewöhnlich. Es ist Ende April, dreihundert Meilen nördlich von Havanna. Die Sonne steht frühmorgens noch nicht hoch. Der Wind ist kühl.
– Das soll 'n Dichter sein.
Ein Matrose ist an mich herangetreten.
– War letzte Nacht unten im Quartier und hat ganz schön Ärger gemacht. Wollte einen einstecken, doch hat nur Schläge kassiert.
Er lacht.
– Wird ihm vielleicht 'ne Lehre sein.
Der Mann legt seine Hand auf meine Schulter, als würden wir uns schon lange kennen. Ein Gesichtsausdruck, als wollte er sagen, dass man doch nicht Dichter sein kann. Dann schüttelt er gutmütig den Kopf und geht. Ich muss an Cranes Vater denken; der wollte dem Sohn die pubertäre Krankheit, den "poetischen Unsinn" mit gutbürgerlicher Arbeit austreiben. Er selbst war neureicher Süßwarenhersteller und betrog seine Frau. Die Ehe zerbrach nach und nach.
In einer dieser Krisen hatte die Mutter ihren Sohn zur großväterliche Plantage auf Kuba mitgenommen, eine Reise, eine Erfahrung, die den jungen Knaben für immer zeichnen sollte. In seiner eigenen Ausgrenzung, die er schon damals spürte, wurde das Meer zum Symbol einer beinahe grenzenlosen, mystischen Kraft, einer Kraft der Liebe, einer Sehnsucht nach Einheit und verlorener Harmonie. Diese Sehnsucht bestimmte sein Werk, sein Leben.
Neunzehnsechsundzwanzig erschienen die White Buildings, eine Sammlung größtenteils schon veröffentlichter Gedichte. Alle übrigen habe er verbrannt, vernichtet, heißt es. In ihnen findet die Sehnsucht ihren Ausdruck in dunkler, gedrungener Sprache. Eine tiefe Vision der wahren Natur des Menschen, mit dem Meer in ihrem Zentrum, als der menschlichen Natur verloren. Der Dichter selbst steht isoliert in einer materialistischen und kunstfeindlichen Welt, das Leben samt Leid zu einer höheren, künstlerischen Einheit zu verbinden suchend. Doch ihm selbst sollte dies niemals gelingen. So beschreibt er das Meer auch als bedrohlich, und seinen Grund als grausam.
Ich kenne ihn, ich glaube gut, wie er dort steht, hoch über dem Wasser. Mir ist, als sähe ich sein ganzes Leben vor mir. Mit siebzehn publizierte er die ersten seiner Gedichte. Er war nach New York gekommen, in die große Stadt, schloss Bekanntschaften dort, kam bis nach Paris, las und lernte. Seine Worte orientierten sich noch an den französischen Symbolisten und am Imagismus. Doch klingt in ihnen bereits eine eigene Sprache in Anlehnung an T.S.Eliot, den Hart Crane wie keinen anderen verehrte.
Gestern las ich einen Brief von ihm. Darin schreibt er, was für eine fürchterliche Versuchung es sei, Eliot zu imitieren. Es raube ihm die Sinne. Doch gleichzeitig glaubte er, einen Weg erkannt zu haben, sein Vorbild zu überwinden, ihn gleichermaßen zu durchqueren und eine positive Vision im Gegensatz zu Eliots The Waste Land zu entwerfen.
Das war zweiundzwanzig, ein Jahr später begann er die Arbeit an seinem Hauptwerk, das ihn schwierige sieben Jahre lang begleiten sollte, ein Zyklus von fünfzehn Gedichten unter dem Titel: The Bridge.
Seine Arbeit glich zu jener Zeit einem bedingungslosen Stürmen, die Visionen brachen im Rausch in schweren Schüben aus ihm hervor, durch die Wände seines Zimmers klangen die Rhythmen kubanischer Rumbas, vermischt mit dem Schlagen der Schreibmaschine und dem Gestank des Alkohols. Wenn er nach Stunden wieder auftauchte, hielt er in seiner Hand ein paar Blätter, maschinenbeschrieben, bereits korrigiert, überarbeitet, wie aus Stein geschlagen.
Das erste Gedicht trug den Titel The Brooklyn Bridge.
Diese Brücke hatte er von seinem Fenster in New York aus gesehen. Ich bat Jahre später die Vermieterin, unten auf mich zu warten.
– Jaja, schaun se ruhig. Macht 400, zahlbar am ersten, in bar und im voraus. Klingeln se unten, sonst ziehn se die Tür einfach zu hinter sich.
Die Wohnung: leer, kahl und verwaist. In der Tiefe wälzt sich laut und primitiv der Verkehr. Doch darüber, über halb verfallenen dunklen Häusern steht sie, zwischen Manhatten und Broklyn, aus Stahl, Sandstein und Granit. Die Broklyn Bridge. Eine aus dem Wasser ragende Harfe. Sie steht bei Crane für den Brückenschlag schlechthin. Sie hebt sich dem Dichter wie ein Wegweiser aus dem umgebenden Großstadtmilieu und deutet zur, von ihm gesuchten, metaphysischen Sprache des Himmels, die allem bewussten Denken überlegen ist.
Ich ziehe die Tür hinter mir zu.
Mehr und mehr machte der Alkohol dem Dichter in den folgenden Jahren dieses Aufspüren schwerer und schwerer, immer wieder kam es zu größeren und kleineren Katastrophen, zerbrochenes Mobiliar, Schlägereien, Exzesse – immer kürzer wurden die Phasen, in denen er zu arbeiten vermochte. Doch dann waren es wieder diese peitschenden Gewitterschauer, in denen er ganze Gedichte in einem Zug vollendete.
Den Zyklus stellte er am Ende unter großen persönlichen und dichterischen Zweifeln fertig. Zu lange hatte die Arbeit gedauert. Die beinahe mystische Vision, die ihnen zugrundeliegt, eine Synthese aller Rassen und Zeiten Amerikas unter einem dichterischen Brückenschlag, hatte für Crane die Zeit nicht überdauert. Die Gedichte leben in einer hermetischer Sprache und Metaphorik, welche den Sinn nicht festlegt, sondern frei fließen lässt. Doch schon weit vor dem Tag ihrer Veröffentlichung hatte der Zyklus für Crane alle schöpferische Energie verloren.
Nachdenklich, alle Kraft aus ihm gewichen, jede Spannung, jede Fähigkeit seine Gedanken in Worte zu fassen, verloren, sah man ihn häufig schweigen die letzten Tagen.
In Mexiko vollendete er noch sein letztes großes Gedicht. Vielleicht sein bestes. The broken tower. Ein Liebesgedicht, das hin und her schwankt zwischen innerer Zerrissenheit und der Hoffnung auf einen neuen, heilen, inneren Turm, den er doch nie gefunden hat.
Vielleicht, denke ich, ist dies der Weg einer an der eigenen Andersartigkeit zugrundegehenden Seele, der auf dieser Welt jede Stütze verwehrt bleibt.
Nun steht er hinten an der Reling. Er legt langsam seinen Bademantel ab, hängt ihn mit Sorgfalt zusammengefaltet über die Brüstung. Er steht noch einen Moment da, in seinen Augen glänzen die Sirenen des Meeres. Man kann ihn lächeln sehen. Vor ihm liegt das letzte Versprechen seines Lebens.
Dann springt er.
Ein Augenblick – Erstarrung. Dann der Ruf: Mann über Bord! Die Matrosen eilen heran. Der fremde Körper taucht noch ein letztes Mal zwischen den Fluten auf, dann bleibt er verschwunden.
Ich schaue zu Ernest hinüber. Er sitzt ungerührt da, blickt aufs Meer, als ginge ihn dies alles überhaupt nichts an.
– Ab Juli kann man jeden Tag einen Marlin fischen, sagt er.
Und ich weiß, dass er recht hat.
zimmer 412
vor 15 Jahren
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen